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Rezension

Die Zutaten einer Revolution

Das Buch «This Is an Uprising» wirft einen Blick in die Geschichte und Theorie von sozialen Bewegungen. Laut den Autoren entstehen soziale Unruhen nicht einfach so, sondern sie werden konstruiert. Eine Buchbesprechung von Tobias Sennhauser.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Sklaverei, Patriarchat oder Kinderarbeit – die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Unterdrückung. In den letzten 150 Jahren gelangen jedoch zahlreiche namhafte Errungenschaften. Dahinter stecken weniger legislative Reformen, sondern vielmehr soziale Bewegungen. 

Die Medien beschreiben soziale Unruhen gerne als zufällige Ausbrüche. Dem widersprechen die Autoren Mark und Paul Engler in ihrem Buch «This Is an Uprising!». Sie argumentieren: Soziale Bewegungen werden konstruiert. 

Gewaltloser Widerstand als Strategie

Das Buch beginnt mit der Bürgerrechtsbewegung der 1950/60er-Jahre in den USA. Eine zentrale Figur war Pfarrer und Aktivist Martin Luther King jr. Seine Stärke war sein strategisches Gespür: Mit wiederkehrenden gewaltfreien Protesten erzeugte er eine öffentliche Krise, um die Gewalt an People of Color offenzulegen.

In ein ähnliches Licht stellen die Autoren Mahatma Gandhi. Dieser werde im Westen fälschlicherweise als Moralapostel und Pazifist betrachtet. Dabei verfolgte Gandhi bei der gewaltfreien Befreiung Indiens nicht moralische Prinzipien, sondern strategische: Vom zivilen Ungehorsam erhoffte er sich schlicht mehr als vom bewaffneten Widerstand.

Vom Pazifismus halten die Autoren nämlich wenig: Dieser huldige moralische Prinzipien und fordere lediglich eine Nicht-Teilnahme an gewalttätigen Praktiken. Die Autoren favorisieren stattdessen die strategische Gewaltfreiheit (engl. strategic nonviolent action): eine Strategie des Widerstandes und der Konfrontation – laut der Autoren eine historische Kraft sozialer Bewegungen. 

Eigene Unruheherde fabrizieren 

Als Nächstes diskutieren die Autoren «Otpor!»: Die serbische Bewegung stürzte im Jahr 2000 das repressive System des Slobodan Milošević. Verantwortlich für den Erfolg von Otpor! war ein landesweites Netzwerk, das ständig neue Unruheherde fabrizierte. 

Otpor!-Aktivist*innen protestieren 1999 in Belgrad gegen Milošević. | Foto: Igor Jeremic

Otpor! wurde beim Sturz Miloševićs durch etablierte Institutionen wie Parteien unterstützt. Die Bewegung fungierte jedoch als Katalysator. 

Die Säulen der Macht

In der Theorie zu sozialen Bewegungen werden politische Systeme bildlich als Tempel beschrieben, wobei die Säulen die Machtverhältnisse symbolisieren. Dazu gehören etwa Militär, Wirtschaft, Gerichte, Medien, Gewerkschaften oder Kirchen. 

Die Säulen der Macht beruhen auf Akzeptanz in der Bevölkerung. Schwindet die Akzeptanz, brechen Säulen weg. Der Wegfall einer oder zwei Säulen kann ein System noch verkraften. Werden es mehr, kann sozialer Wandel ganz plötzlich entstehen. 

Tatsächlich braucht es für einen Systemwandel erstaunlich wenig, argumentieren die Autoren: Untersuchungen zeigten, dass bereits bei einem Support von 3,5 Prozent der Bevölkerung sämtliche Kampagnen erfolgreich waren. Support heisst: aktives und sichtbares Engagement.

Die Alchemie von sozialen Protesten

Mit einem Blick in die Geschichte sozialer Bewegungen diskutieren die Autoren, was es für den erfolgreichen Widerstand braucht:

  1. Störung (engl. disruption)
    Zuerst wird das System gestört. Je stärker eine Aktion die Bevölkerung oder die Wirtschaft tangiert, desto grösser die (mediale) Aufmerksamkeit. Dabei ist es wichtig, dass die Bevölkerung das Ziel der Bewegung anerkennt und als legitim erachtet.
  2. Opferbereitschaft
    In einem zweiten Schritt entblössen Aktivist*innen die Macht des Systems. Dabei werden Schläge eingesteckt oder Verhaftungen provoziert. Repression schafft Möglichkeiten, seine Überzeugen zu kommunizieren. Zudem kann die sichtbare Gewalt die Bevölkerung mobilisieren.
  3. Eskalation
    Um Stagnation zu verhindern, müssen sich Bewegungen ständig neu erfinden. Eine Möglichkeit besteht darin, verschiedene Proteste miteinander zu kombinieren, um ein dramatische Situation herbeizuführen. 

Wenn das Unterfangen gelingt, entsteht ein sogenannter Wirbelwind (engl. whirlwind). So wie beim Arabischen Frühling im Jahr 2011. 

Einen Wirbelwind lostreten

Mohamed Bouazizi war ein tunesischer Gemüsehändler, der nach dem Tod seines Vaters seine Mutter und seine Schwestern ernähren musste. Nachdem er von den Behörden schikaniert und misshandelt wurde, zündete sich Bouazizi vor dem Regierungsgebäude an und verstarb drei Wochen später im Spital. Es war der Auslöser des Arabischen Frühlings von 2011, ein Wirbelwind, der den gesamten arabischen Raum erfassen sollte.

Gedenktafel für Mohamed Bouazizi, der den Arabischen Frühling auslöste. | Foto: FarOutFlora

Damit ein Wirbelwind entsteht, braucht es einen Trigger-Event. Oft hört die Bevölkerung so zum ersten Mal von einem Problem, reagiert mit einem moralischen Aufschrei und ist offen, mehr darüber zu erfahren. So entwickelt sich ein soziales Problem über Nacht zu einer sozialen Bewegung. Trigger-Events inspirieren ausserdem neue Aktivist*innen dazu, sich der Bewegung anzuschliessen.

Trigger-Events sind nur der Anfang. Erfolgreiche Bewegungen kreieren Feedback-Loops: Ein Trigger-Event führt zu Massenprotesten, die Mediengeschichten und Reaktionen der Behörden auslösen, die wiederum neue Aktionen begünstigen. Als Folge verändert sich die öffentliche Meinung. Politische Reformen folgen allerdings erst später.

Die Frage der Gewalt

Eine wiederkehrende Frage in sozialen Bewegungen betrifft die Wahl der Taktiken. Die Autoren illustrieren diese Frage anhand der Bewegung «Earth First!». Ihre Aktivist*innen schlugen Nägel in die Bäume (engl. tree spiking), um die Sägen der Baumfäller*innen zu zerstören. Dabei konnten diese verletzten werden, was die Forstwirtschaft nutzte, um die Bewegung als gewalttätig zu diffamieren. 

Der in vielen Bewegungen verbreitete Ansatz der «taktischen Vielfalt» (engl. diversity of tactics) bezeichnen die Autoren als verkürzt und euphemistisch. Die Erfahrung aus anderen sozialen Bewegungen zeige, dass zumindest in den USA jene Bewegungen Schaden genommen haben, die in der Öffentlichkeit als gewalttätig wahrgenommen wurden. 

Manche Gruppierungen argumentieren, dass Sachbeschädigung keine Gewalt sei. Die Autoren kritisieren den Fokus auf die Gewaltdefinition: Ob eine Taktik tatsächlich gewalttätig ist, würde nicht von abstrakten, philosophischen Diskussionen abhängen, sondern von der öffentlichen Reaktion. 

Bisweilen wird argumentiert, dass Bewegungen von radikalen Flanken profitieren würden. Die Autoren differenzieren: Radikale Flanken hätten besonders dann einen positiven Effekt, wenn die Aktionen gewaltfrei seien. Bewegungen mit einer gewalttätigen radikalen Flanke seien zu 20 Prozent weniger erfolgreich, da diese weniger Leute mobilisierten. Bewegungen sollten sich deshalb von gewalttätigen Flanken distanzieren. 

Ziviler Ungehorsam für Tiere?

«This Is an Uprising!» liefert wertvolle Erkenntnisse aus der Geschichte und Theorie von sozialen Bewegungen: Sozialer Wandel ist möglich, muss aber auf der Strasse erkämpft werden. Förderlich ist nicht blinder Aktionismus, sondern geschicktes Eskalieren. 

https://www.youtube.com/watch?v=IXcmqguK3DE
Der Film zur Kampagne «Stop Huntingdon Animal Cruelty».

In der Tierrechtsbewegung sind immer wieder entsprechend Ansätze zu beobachten. Am bekanntesten ist die Kampagne «Stopp Huntingdon Animal Cruelty» (SHAC). Diese brachte in den 1990er- und 2000er-Jahren ein Tierversuchslabor an den Rand des Ruins. Das Erfolgsrezept lag in der steten, dezentralen Eskalation auf der Strasse, die immer neue Aktivist*innen an Bord holte.

Offen bleibt, inwiefern sich die Theorie des sozialen Ungehorsams auf die Schweiz übertragen lässt. Statt Kopf und Kragen zu riskieren, kann mensch die Verfassung mithilfe einer Volksinitiative ändern. Selbst wenn diese am Schluss nicht angenommen wird, diskutiert die politische Schweiz die Forderung monatelang. Zudem initiieren Behörden und Parteien nicht selten Reformen, um der Volksinitiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. 

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1 Kommentar

Yves Bonnardel
vor 2 Jahre

Ich betrachte die SHAC-Kampagne als einen durchschlagenden Misserfolg, der den Kreislauf des Scheiterns schließt, der fünfundzwanzig Jahre zuvor von der ALF begonnen wurde. Ein schlecht gewähltes Ziel (eine Hundefarm für Versuchslabore), eine Kampagne, die sich auf die Schließung dieser Farm konzentriert und nicht auf die Anprangerung von Speziesismus und der moralischen Illegitimität der Tierausbeutung, und schließlich beträchtliche Mittel, menschlich und materiell, und eine unendliche Dauer, extreme Kosten (vor allem in Form von jahrelangen Haftstrafen für die Aktivisten), um fast nichts zu erreichen. WMNTS: was man nicht tun sollte.

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