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Nutztierhaltung

Natur, Befreiung und Enhancement

Krebsverseuchte Mäuse, Mastitis-resistente Kühe, federlose Hühner: Unter dem Schlagwort “Animal Enhancement” wird seit Jahren intensiv daran geforscht, die Leistung von Tieren fortlaufend zu “verbessern”. Davon profitieren sollen auch die Tiere selbst, versprechen die Technologen. Doch was ist davon zu halten? Eine Debatte zwischen Arianna Ferrari und Adriano Mannino.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Kommentar zu Arianna Ferraris „Animal Enhancement: Künftiger Alptraum für Nutztiere?“. Auf Maninos Kritik antwortet Ferrari hier.
Was schon für den Faustkeil galt, gilt auch für die moderne Biotechnologie: Sie erweitert unsere Macht, d.h. unser Veränderungspotenzial – im Guten wie im Schlechten. Es versteht sich von selbst, dass Technologien, die in menschen- oder tierausbeuterischen Kontexten entwickelt und mit entsprechenden Zielen eingesetzt werden, in ihren Auswirkungen hochproblematisch sind und dazu tendieren, das Leid der Leidenden noch zu vergrössern. Die speziesistische Ausbeutung anderer Tiere ist unhaltbar. Wir müssen darauf hinwirken, dass das Wohl aller empfindungsfähigen Lebewesen gleichermassen als Selbstzweck betrachtet, behandelt und befördert wird. Daraus folgt unmittelbar, dass jede Instrumentalisierung empfindungsfähiger Wesen zu trivialen Zwecken illegitim ist. Inbesondere betrifft dies die Nahrungsgewinnung: Die Herstellung von Tierprodukten – und damit auch von Technologien zur noch effizienteren Ausbeutung der „Nutztiere“ – ist einzustellen, denn wir können uns gesund (ja gesünder) und gut vegan ernähren.

Enhancement jenseits des Speziesismus

Der antispeziesistische Paradigmenwechsel ermöglicht es nun aber, die Biotech-Enhancement-Diskussion in einem anderen Licht zu sehen und zu führen. Es geht mir im vorliegenden Aufsatz darum, zu skizzieren, inwiefern Enhancement-Technologien Teil eines langfristigen, nicht-speziesistischen ethischen Projekts sein können. In diesem Zusammenhang will ich in aller gebotenen Kürze auch den Transhumanismus und namentlich David Pearce verteidigen, der oft missverstanden wird und in Tierrechtsdebatten schlecht wegkommt – so auch in Arianna Ferraris Artikel „Animal Enhancement: Künftiger Alptraum für Nutztiere?“. Ich gehe selbstverständlich mit ihr einig, dass menschliche wie nicht-menschliche Tiere „Rechte haben und dass sie ein möglichst gutes Leben verdienen“. Nun lässt sich aber nicht bestreiten, dass nicht nur soziokulturelle, sondern auch biologische Faktoren unser Leben beeinträchtigen und aufgrund des Alterungsprozesses früher oder später zerstören. So versuchen wir denn auch seit Menschengedenken, physischen und psychischen Schmerz, Krankheiten, Altersdegenerationen und schliesslich den Tod zu überwinden oder zumindest hinauszuzögern und erträglicher zu machen. Was unseren Gesundheitszustand und unsere Gesundheitsspanne betrifft (die ethisch das bessere Mass ist als die blosse Lebensspanne bzw. -erwartung), haben wir auch grosse Fortschritte erzielt, die vor dem Anbruch des technowissenschaftlichen Zeitalters niemand für möglich gehalten hätte.

Die Natur transzendieren?

Die Transhumanisten und insbesondere David Pearce sagen nun im Wesentlichen: Wenn wir den wahrscheinlichen Fortschritt in der Bio- und Informationstechnologie über die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte bedenken, ist alles möglich. Warum also nicht nach Kräften versuchen, diese Entwicklung im Sinne eines ethischen Grossprojekts in sichere und gute Bahnen zu lenken und das Leid ein für allemal aus der Welt zu schaffen? Wie Pearce hier skizziert, schliesst dieses Projekt auch die graduelle Veränderung unserer Natur mit ein, d.h. der biopsychologisch-menschlichen Veranlagungen. Sie generieren heute in mancherlei Hinsicht zwangsläufig Leid, was angesichts ihrer evolutionären Entstehung auch nicht erstaunt: Unsere Biopsychologie dient nicht primär uns, sondern unseren Genen (in einem steinzeitlichen Umfeld). Das Genom wiederum dient sich selbst und enthält daher – gemessen an unserem Interesse an einem möglichst leidfreien Leben – viel „Malware“. Mit anderen Worten: Mutter Natur hat es nicht besonders gut mit uns gemeint und es gibt keinen Grund, ihre „Grenzen“, die wir medizinisch ohnehin schon beträchtlich erweitert haben, oder den zufälligen Status quo der menschlichen Evolution zu heiligen und einzufrieren. Wenn Transhumanisten von „Enhancement“ sprechen, meinen sie insbesondere Veränderungen unserer Biologie und Psychologie, die unsere Lebensqualität verbessern. Dient eine „Verbesserung“ anderen Zwecken – etwa der effizienteren Ausbeutung und Tötung empfindungsfähiger Wesen – ist diese Definition nicht erfüllt. Punkt 7 der „Transhumanist Declaration“ lautet entsprechend: „We advocate the well-being of all sentience, including humans, non-human animals, and any future artificial intellects, modified life forms, or other intelligences to which technological and scientific advance may give rise.“ Wenn die Tierrechte auch nicht den Fokus der Transhumanisten bilden, so gilt es doch zu bemerken, dass einer der beiden Gründer von Humanity+, David Pearce, selbst in der Tierrechtsbewegung aktiv ist und dass man unter Transhumanisten weit überdurchschnittlich viele Vegetarier und Veganer antrifft. Pearce wird auch nicht müde, die transhumanistische Community mit Vorträgen darauf hinzuweisen, dass sie der zitierte Punkt 7 ihrer eigenen Erklärung auf den Anti-Speziesismus und eine möglichst leidfreie, vegane Ernährung verpflichtet.

Tierbefreiung im Spannungsfeld von Naturidylle und Naturhölle

Für viele TierrechtlerInnen besteht die Vision der Tierbefreiung darin, die Tiere in der Natur „in Frieden“ zu lassen und mit ihnen „harmonisch“ zu koexistieren. Mir scheint, dieser Befreiungsbegriff beruhe auf einem mythologischen Naturbild: Es gibt auf diesem Planeten um Grössenordnungen mehr „Wildtiere“ als Menschen und von Menschen ausgebeutete Tiere zusammen. Die „verschwenderischen“, aber evolutionär erfolgreichen Reproduktionsstrategien der meisten Tierarten haben zur schrecklichen Folge, dass die grosse Mehrzahl der Wildtiere bereits im Kindesalter einen Tod stirbt, den man sich qualvoller kaum vorstellen kannHunger, Krankheiten, Behinderungen, Verletzungen, Raubtiere. Ist das die „Befreiung“, wie wir sie den Tieren wünschen? Wie wir sie uns selbst wünschen würden? Und wäre das nicht geradezu speziesistisch? Wir würden schliesslich nicht zögern, Menschen in vergleichbaren Situationen zu Hilfe zu eilen. Doch wenn die Elefantenmutter mit ihrem Kind im Schlamm stecken bleibt und einem grausamen Tod entgegenblickt, muss man als Retter zusehen, dass man keinen widerrechtlichen Akt begeht: Man sollte der Natur ja ihren Lauf lassen. „She has a plan.“ In der Tat: Der „Plan“ besteht im Wesentlichen darin, die Reproduktionsrate und damit die Verbreitung der Gene zu maximieren. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins beschreibt die Konsequenzen wie folgt: Während ich diesen Satz schreibe, werden tausende Tiere bei lebendigem Leib aufgefressen; andere rennen gerade in panischer Angst um ihr Leben; wieder andere sind Parasiten zum Opfer gefallen und werden langsam von innen aufgezehrt; zu Tausenden sterben sie in diesem Augenblick an Hunger, Durst und Krankheit. Der Transhumanist Nick Bostrom lässt seinen sprechenden Golden Retriever in diesem Zusammenhang bemerken, die meisten Menschen betrachteten die Natur aus seiner ökologisch-ästhetischen Perspektive: Da sei von Biodiversität und von der „Gesundheit“ und Stabilität von Ökosystemen die Rede. Vergessen hingegen gehe, dass die Bewohner dieser Ökosysteme, die „Wildtiere“, Individuen mit eigenen Bedürfnissen sind: „Disease, starvation, predation, ostracism, and sexual frustration are endemic in so-called healthy ecosystems. The great taboo in the animal rights movement is that most suffering is due to natural causes. Any proposal for remedying this situation is bound to sound utopian, but my dream is that one day the sun will rise on Earth and all sentient creatures will greet the new day with joy.“ Glücklicherweise wurde das „Tabu“ mittlerweile etwas gelockert. Neben David Pearce widmet sich auch der Tierrechtsphilosoph Oscar Horta intensiv der Naturfrage; seine wichtigsten Arbeiten zum Thema finden sich hier oder hier und hier. Und Ethiker Jeff McMahan konnte entsprechende Überlegungen sogar im „Opinionator“ der New York Times platzieren. Die Existenz karnivorer Arten bzw. von Raubtieren stellt eine besondere Herausforderung dar, theoretisch und praktisch. Hier gilt es ganz besonders zu beachten, dass sich keine speziesistischen Annahmen in die Diskussion einschleichen. Zum Beispiel wäre die Annahme, Arterhaltung sei ein Gut an sich bzw. habe einen intrinsischen Wert, mit einer konsequent anti-speziesistischen Sichtweise nicht vereinbar: Es geht nicht darum, „Arten“ (als Abstracta) zu schützen, sondern konkrete, empfindungs- und leidensfähige Individuen. Indirekt-ökologisch kann die Anzahl der Arten durchaus eine Rolle spielen, aber an sich, direkt-ethisch ist es irrelevant, wie viele Arten es in der Welt gibt. Relevant ist, wie es den existierenden Individuen geht – unabhängig davon, zu welchen und wie vielen Arten sie gehören. Aus anti-speziesistischer und tierrechtlicher Perspektive ist weiter die Frage bedeutsam, wie wir reagieren und welche (technologischen) Schritte wir erwägen würden, wenn Menschen(kinder) unter analogen Bedingungen von Raubtieren bedroht, attackiert und bei lebendigem Leibe verzehrt würden und welche Implikationen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit genau hat. Nicht zuletzt kann es hilfreich sein, sich zu überlegen, was zu tun wäre, wenn wir selbst biologische Karnivoren, aber zu denselben ethischen Erkenntnissen gelangt wären. (Glücklicherweise haben uns die blinden evolutionären Zufälle wenigstens dieses Problem erspart.) Wären wir dann (transhumanistisch!) verpflichtet, uns selbst und unsere Kinder genetisch zu herbivorisieren, sollte sich nur so das (überlebenswichtige) Gemetzel stoppen lassen, dem jährlich Milliarden Tiere zum Opfer fallen?

Das ethische Potenzial der Biotechnologie

Arianna Ferrari hat voll und ganz Recht, wenn sie schreibt, dass es den radikalkritischen Blick auf die derzeitige speziesistische Praxis nicht zu verlieren gilt. Aber sie trifft in meinen Augen nur die halbe Wahrheit, wenn sie anfügt, die Frage nach dem möglichen Nutzen von Wissenschaft und Technologie für Mensch und Tier sei „gewiss legitim“. Diese Frage ist nicht nur legitim, sondern angesichts der enormen ethischen Opportunitätskosten, die ein verpasster oder verzögerter positiver Technologieeinsatz zur Folge hat, absolut notwendig und dringlich. David Pearce geht es exakt um diese Frage. Er stellt fest, dass eine Befreiung aller fühlenden Wesen, die ihren Namen verdient, letztlich nur über ein ethisch-politisches Biotech-Grossprojekt zu haben ist, das diverse Enhancements einschliessen wird. Was die „Wildtiere“ und die Natur angeht, skizziert Pearce hier die künftigen Möglichkeiten eines „Pan-Species Welfare State“. Dabei sind ihm die Risiken derartiger Vorschläge voll und ganz bewusst (wie den Transhumanisten überhaupt, die im Feld der „Global Existential Risks“ eine Pionierarbeit leisten). Doch Pearce stellt die berechtigte Gegenfrage: Kann es denn auf diesem Planeten viel schlimmer kommen, als es war, weiterhin ist und ohne die ethische Unterstützung der Biotechnologie sein wird? Die bisherige Natur- und Kulturgeschichte lässt sich durchaus zutreffend als Katastrophenserie beschreiben. Ist es vor diesem Hintergrund nicht viel kühner, die Natur und unsere evolutionär unglücklich zusammengewürfelten Naturen nicht verändern zu wollen? Und würden wir damit das ethisch dringliche Projekt einer wirklichen Befreiung und einer wirklichen Abolition – der Abolition allen unfreiwilligen Leids nämlich – nicht verfrüht sabotieren? Ob es uns gefällt oder nicht: Alleine wir Menschen sind in der Lage, über das Schicksal des empfindungsfähigen Lebens auf diesem Planeten zu entscheiden – und wir entscheiden so oder so, denn das Nichtstun ist genauso eine Entscheidung und hat Folgen. Wenn wir tatenlos zusehen, wie sich das immense Leid in der Natur in alle Ewigkeit fortsetzt, entspricht dies faktisch dem (quasi-theologischen) Urteil, dass letztlich doch alles gut ist und gutgeheissen werden kann. Was den Abolitionismusbegriff angeht, kann man Pearce freilich keinen Strick daraus drehen, dass er ihn anders (und m.E. angemessener) versteht als etwa der Tierrechtler Gary Francione. Während es Francione um die Abschaffung des rechtlichen Eigentumsstatus der Tiere und ihrer Nutzung geht, strebt der Pearce’sche Abolitionismus die Beseitigung allen unfreiwilligen Leids an. Dabei ist zu bemerken, dass der Leid-Abolitionismus den Eigentums-Abolitionismus im Wesentlichen mit einschliesst, aber nicht umgekehrt. Zudem kann ein eingeschränkter Leid-Abolitionismus seinerseits auch als Teil all jener Ethiken figurieren, welche die Verhinderung unfreiwilligen Leids zwar nicht als das einzige, aber doch als ein wichtiges Prinzip unter anderen anerkennen.

Transhumanistische Leistungsgesellschaft auf Kosten der Tiere?

Weiter wäre es auch verfehlt, den Transhumanismus bzw. den Pearce’schen Transanimalismus als Ausdruck einer „neokapitalistischen Leistungssteigerungsgesellschaft“ abzutun. Sein Anliegen besteht ja u.a. gerade darin, von allen Formen der Ausbeutung und des Zwangs – seien sie soziokulturell oder biologisch bedingt – zu emanzipieren. So erstaunt es denn auch nicht, dass viele Transhumanisten eine anarchosozialistische Vision vertreten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Kritik, das Pearce’sche Projekt fördere Tierversuche, was „gar nicht thematisiert“ werde und daher „jeglichen Bezug auf tierrechtliche Gedanken unglaubwürdig erscheinen“ lasse. Pearces genuin tierrechtliche und vegane Anliegen anzuzweifeln, scheint mir unangebracht. Auf die Tierversuche kommt er an verschiedenen Orten zu sprechen, etwa hier oder hier: „We now recognize the medical experiments performed on non-consenting humans last century as some of the gravest crimes in recent history. Yet we perform analogous experiments on members of other species as ‚legitimate‘ medical research. This is arbitrary speciesist bias at its worst.“ Ferner führt Pearce aus, dass es eine am Leid orientierte Ethik dennoch erlauben würde, an Tieren nicht-invasive und unschädliche Experimente durchzuführen, die dazu beitragen können, das Leid menschlicher wie nicht-menschlicher Tiere zu lindern und zu beseitigen: „The risks here are obvious, but so are the risks of bringing medical progress to an end.“ Zusätzlich ist festzuhalten, dass die meisten Transhumanisten eine konsequentialistische Ethik vertreten, also im Gegensatz zu den Deontologen Leidabwägungen bzw. die Wahl des in diesem Sinne geringeren Übels nicht durch zusätzliche Prinzipien einschränken (was an dieser Stelle freilich nicht begründet werden kann, m.E. aber richtig ist). Daraus ergibt sich: Die Verursachung von Leid ist genau dann legitim, wenn sie mehr Leid verhindert, als sie verursacht. (Was etwa auch für unsere Ernährung gelten würde, wenn die vegane Alternative nicht zur Verfügung stünde – wobei auch sie ja einige kaum vermeidbare Leid(neben)folgen hat, die wir in Kauf nehmen dürfen und müssen, um zu überleben.) Dieser konsequentialistische Grundsatz führt zu einer Radikalkritik der aktuellen Praxis, wäre aber mit einer prinzipiell-absoluten Ablehnung von Tierversuchen unvereinbar.

Das „ewige“ Leben: Frivole Science-Fiction zulasten der Tiere?

Bei Aubrey de Greys Forschung zur Heilung der Altersdegenerationen beispielsweise geht es augenscheinlich um Leid, Leben und Tod, so dass auch Mittel, die in gewissem Ausmass selbst Leid erzeugen, nicht kategorisch ausgeschlossen, selbstverständlich aber nach Kräften zu vermeiden sind und strengsten Auflagen zu genügen haben. Die Altersdegenerationen raffen (oft nach langem Leidensweg) Tag für Tag 100.000 (!) Menschen dahin, lassen viel Leid und tragische Lücken zurück, vernichten Unmengen an wertvoller Lebenserfahrung und nicht zuletzt auch an ökonomischen Ressourcen, die ihrerseits riesige ethische Opportunitätskosten aufweisen. Die Alltäglichkeit und bisherige Unvermeidbarkeit dieser Dauerkatastrophe machen sie nicht weniger schlimm, als sie – realistisch und ehrlich betrachtet – tatsächlich ist. Anhand de Greys Forschung lässt sich auch aufzeigen, weshalb die Unterscheidung zwischen „Therapie“ und „Enhancement“, die oft gegen den Transhumanismus ins Feld geführt wird, letztlich kollabiert. De Grey arbeitet nämlich nicht primär am „ewigen“ Leben, sondern schlicht daran, dass wir gesund leben und bleiben können. Paradox ist nun, dass dieses Unterfangen allseits unterstützt wird – und doch nicht: Man scheint nämlich die Bekämpfung (der Ursachen) altersdegenerativer Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Störungen, Muskel- und Knochenschwund, Immunschwäche oder Gehirnzerfall nur so lange zu unterstützen, als sie nicht wirklich erfolgreich ist! Denn wirklich erfolgreich wird sie dann sein, wenn diese Krankheiten beseitigt sind bzw. mit fortschreitender Lebensdauer nicht zunehmen, sprich: wenn wir nicht mehr altern. Insofern ist das Resultat der graduellen Verbesserung unserer präventiven Therapien (zur Überwindung von Krankheiten und Leid) nichts anderes als ein transhumanistisches Enhancement. Die kontinuierliche und letztlich radikale Lebensverlängerung ist daher eine Begleiterscheinung des altbekannten und anerkannten medizinisch-therapeutischen Versuchs, Krankheiten und damit Leid zu verhindern und gesund zu bleiben. Zur unvoreingenommenen Beurteilung von Enhancement-Konsequenzen haben Nick Bostrom und Toby Ord einen hilfreichen „Reversal Test“ entwickelt: Wenn wir uns fragen, ob die Erhöhung eines bestimmten Parameters ethisch erstrebenswert ist, betrachten wir zunächst, wie eine Senkung des entsprechenden Parameters zu bewerten wäre. Die Parameter können etwa sein: Lebens- bzw. Gesundheitsspanne, kognitive Fähigkeiten, Empathiefähigkeiten oder der Glücks-Set-Point, der auch eine erstaunlich hohe genetische Komponente aufweist und zwischen den Extremen einer stabilen, hohen Lebenszufriedenheit bzw. einer permanenten Depression schwankt, die weltweit auch Millionen Menschen betrifft. Stellte sich plötzlich eine spürbare Senkung in einem dieser Parameter ein, brächen wohl kaum Kontroversen darüber aus, ob es sich hierbei denn tatsächlich um eine negative Entwicklung handle. Warum dann aber die Kontroversen, wenn es um die Frage geht, ob umgekehrt eine Erhöhung an sich gut wäre? Es gibt kaum Grund zur Annahme, dass wir bei den genannten Parametern zufällig gerade lokale Optima erreicht hätten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Lebenserwartung (zum Geburtszeitpunkt) bei etwa 40 Jahren. Wenn eine erneute Absenkung negativ zu werten wäre, warum ist es dann nicht gleichermassen negativ, wenn es uns nicht gelingt, die Lebenserwartung weiter zu erhöhen? Was die anderen Parameter betrifft, dürfte eine Erhöhung nicht nur an sich wünschenswert, sondern auch bei der Vermeidung der „Global Existential Risks“ und schliesslich beim Aufbau einer friedlichen, nicht-speziesistischen planetaren Zivilisation förderlich sein – bei einer überlebenswichtigen Aufgabe also, auf die uns die Evolution im steinzeitlichen Umfeld nur sehr beschränkt vorbereiten konnte. Abschliessend sei erwähnt, dass diese spannenden Debatten online umfassend zugänglich sind. Nick Bostrom und David Pearce stellen praktisch all ihre Arbeiten frei zur Verfügung. Mit David Pearce kann man auch auf Facebook interagieren, wo er unlängst zum paradoxen Nebeneinander kranker und krankmachender Todesfabriken und dem Versuch, unser Leben zu erhalten, zu heilen und zu verlängern, bemerkt hat: „There is indeed a terrible irony about striving to extend our own lives while killing tens of billions of sentient beings in the death factories each year. But I still think we should pursue anti-aging research. Radical healthspan-extension will benefit nonhumans too. Already some senior dogs are prescribed l-deprenyl/selegiline to extend their lifespan and cognitive health. We just need to switch to thinking of ways to help other sentient beings – human and nonhuman – rather than ways to exploit them.
Adriano Mannino studiert Philosophie, ist tif-Mitglied und engagiert sich in der Juso und SP, bei der Décroissance und den Freidenkern. Weitere Artikel von ihm hier.
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2 Kommentare

Zardoz
vor 10 Jahre

Sie meinen das ernst, befürchte ich?

Was für ein spezieszistischer Ansatz als Mensch sich über (Raub-)Tiere zu stellen und ihnen menschliche Ethik einhämmern zu wollen …

Oder sind doch nicht alle Lebensformen gleich und manche gehören abgeschafft?

Laura
vor 11 Jahre

ist ein sehr guter und stimmiger artikel. auch als interessierte tierschützerin habe ich noch neues dazu gelernt und neue gedankengänge übernehmen können. danke

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